Aufbruch in ein neues Leben
Der erste Blick auf die Skyline von Phoenix, Arizona, überwältigt die afrikanische Familie Lamungu. Die Lamungus sind Somali-Bantu, Angehörige einer versklavten Volksgruppe, die bis 1991 in Somalia zu Hause war und danach in elenden Lagern in Kenia. 12 000 von ihnen haben nun einen US-Pass bekommen und siedeln in die USA um. – Das Protokoll einer Reise, die in einer armseligen Hütte beginnt und zwischen glitzernden Hochhäusern vorläufig endet.
Der Mann muss verrückt sein. Er rennt über den Marktplatz des Flüchtlingslagers und schlägt mit den Armen, als hätten seine Jackenärmel Feuer gefangen. Die dürren Köter, die sich zwischen den Hütten herumdrücken, verziehen sich. Der Mann rennt, er schreit: "Ich bin Amerikaner! Wir sind alle Amerikaner!" Die Leute bleiben stehen und starren hinter ihm her, dann gehen sie weiter, kopfschüttelnd. Es gibt hier zu viele, die durchdrehen. Man kann sich nicht über jeden aufregen. Die Marktfrauen, gefasst darauf, sich Tag für Tag zu langweilen, schieben ihren Mais auf dem Lehmboden zusammen, ordnen träge die Körner, immer eine Handvoll pro Portion. Die Hunde kommen wieder aus dem Schatten und versuchen, die abgeschlagenen Ziegenfüße, die zwischen den Ständen der Schlachter verdorren, zu schnappen. Sie springen auseinander, wenn die Männer mit Stöcken nach ihnen schlagen. Dann kriechen sie wieder heran. Das ist das tägliche Spiel, die Normalität. Für Wahnsinn ist hier im kenyanischen Flüchtlingslager Kakuma kein Platz.
Hassan Lamungu ist nicht verrückt, im Gegenteil. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt er sich wie ein normaler Mensch. Vor ein paar Minuten hat er einen Mitarbeiter der UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, getroffen. "Hassan", hat der gesagt, "Hassan, ich habe Neuigkeiten. Du und deine Familie, ihr kommt bald weg hier. Alle Somali Bantu gehen nach Amerika. Ihr werdet Amerikaner. Das verspreche ich dir."
Hassan Lamungu hat keine Ahnung, wie aus einem Afrikaner plötzlich ein Amerikaner werden kann. Es ist ihm egal. Er weiß auch nicht, dass er bald in einem Apartment in Arizona sitzen und sich fragen wird, warum es in der Wohnung so kalt geworden ist, seit er an diesem Knopf an der Wand gedreht hat. Afrika: das ist alles, was schlecht ist; Amerika ist alles, was gut ist. Er wird dieses Rattenloch von Flüchtlingslager verlassen und nie mehr zurückkehren. Amerika: das Wort verspricht, dass er und seine Familie nicht mehr hungern müssen, dass sie respektiert werden, in Sicherheit sind. Dass seine Frau keine Angst mehr haben muss, vergewaltigt zu werden. Das Wort verspricht sogar, dass seine Kinder eine Schulausbildung bekommen.
Hassan Lamungu spürt ein neues Gefühl im Bauch. Nicht mehr alles ist tot und hart. Ihm ist, als bräche eine Kruste auf, und darunter wäre es weich und warm. Hoffnung. Der Tag ist heiß, ein bisschen stickig. Hassan Lamungu ist zum ersten Mal seit vielen Jahren glücklich.
Seine Zukunft wurde vor fünf Jahren abgemacht, an einem Schreibtisch in Washington D.C.. Dort saß 1999 ein Beamter, und der entschied über einen einzigartigen Versuch, über ein Menschenexperiment. Jedes Jahr erlauben die USA rund 70 000 Flüchtlingen aus aller Welt die Einreise. Doch nie zuvor war eine ganze Volksgruppe in die Neue Welt umgesiedelt worden, die wie die Somali Bantu von der westlichen Zivilisation kaum berührt sind. 12 000 Menschen, die im Flüchtlingslager an der kenyanisch-sudanesischen Grenze auf ihre Chance warten. Keiner von ihnen hat je von McDonald's gehört. Sie kennen keine Kühlschränke und keine Toiletten, kein Besteck und keine Nahrung in Verpackungen. Fast alle Somali Bantu sind Analphabeten, und keiner von ihnen spricht Englisch.
Die US-Regierung hatte sich auf Drängen der UNHCR der Somali Bantu angenommen. Der Mann am Schreibtisch in Washington verlieh ihnen den "Priority Two-Status" - Etikett für eine "in Umfang, Vergangenheit und Wesen klar zu definierende Menschengruppe, deren Situation eine Umsiedelung nach den Gesetzen der amerikanischen Einwanderungsbehörde zwingend erforderlich zu machen scheint". Die Somali Bantu sind in der Tat leicht zu definieren. Sie sehen alle einander ähnlich. Sie haben alle die gleiche Geschichte zu erzählen, die handelt von Verschleppung, Sklaverei und Gewalt.
Dem Antrag der US-Flüchtlingskommission wird im November 1999 stattgegeben. Mit vier Jahren Verzögerung kommt im Mai 2003 die Zukunft nach Kakuma.
Die Leute im Dorf Kakuma nennen das Lager "das Geschwür an unserem Hintern". Das ist, geographisch gesehen, eine exakte Beschreibung. Der Ort liegt auf einer kleinen Erhebung, das Lager weit ausgestreckt dahinter in einer Ebene. Fast 100 000 Flüchtlinge leben hier, ein gewaltiges Heer der Armen. Hütten aus Lehm, Blech und Pappen, auf denen "Made in USA" steht, bis zum Horizont. Dazwischen grasen magere Kamele. Ein paar Verschläge, über denen "Supermarkt" steht. Ein Marktplatz und Strohhütten mit Satellitenschüsseln, in denen Spiele der englischen Fußballliga übertragen werden. Es gibt Fanclubs, einen für die Anhänger von Arsenal London, einen für die von Manchester United. Aber es gibt auch Hunger und tote Kinder. Furunkeln an Menschenkörpern, die einen würgen lassen und Exkremente zwischen den Behausungen.
Dafür hat Hassan Lamungu keinen Blick mehr übrig. Er ist 42 Jahre alt, aber die Nachrichten sind so gut, dass er rennt wie ein junger Kerl. Als er zu hause ankommt, ist er außer Atem. Er besitzt keine große Hütte, sie ist eher ein Verschlag. Ein paar Äste, an die er Plastiktüten gehängt hat wie Wäsche auf eine Leine. Die Plastiktütenvorhänge reichen auf drei Seiten bis zum Boden. Die Rückwand grenzt an eine Wellblechhütte, wenigstens kommen hier keine Hunde herein. Für das Dach hat er ein paar löchrige Stücke Blech gekauft. Dafür hat er wochenlang gespart, hat immer nur das Nötigste zu essen besorgt, etwas Mais und Linsen, niemals Butter oder Zucker, bis die Kinder krank wurden vom Hunger. Vor der Tür ein verkohltes Loch im Boden zum Kochen, daneben liegt ein schmutziger Topf. Ein rotes Hemd hängt zum Trocknen über dem Dach, das einzige Kleidungsstück, das Hassan Lamungu besitzt, außer dem, was er am Leib trägt. In der Hütte liegt eine schmutzige, aus Gräsern geflochtene Matte auf dem Boden, die ist das Bett. Darauf hocken, wie jeden Tag, Hassans sechs Kinder, seine Frau und seine Mutter. Sie warten. Etwas anderes gibt es nicht zu tun. Hassan Lamungu lässt sich auf den Boden fallen. "Ihr werdet es mir nicht glauben", jappst er. "Von heute an seid ihr alle Amerikaner."
Hassan Lamungu sieht aus wie jemand, der lange gewartet und sich in der Wartezeit zu viele Gedanken gemacht hat. Er ist dünn wie eine Puppe. Ginge er aufrecht, wäre er ein großer Mann. Aber er lässt die Schultern nach vorn hängen, vielleicht, weil er ständig das Gefühl hat, sich für alles entschuldigen zu müssen. Sein Gesicht ist zerdroschen. Die Nase gebrochen und schief zusammengewachsen, die Augen sitzen tief in den Höhlen, braun das eine, blau und blass das andere. Es schwimmt in einer trüben Suppe, seit die Röteln darüber hergefallen sind. Wenn Hassan lächelt, schiebt sich die Haut wie Küchenkrepp über seine Wangenknochen.
Seine Kinder liebt er innig. Die Töchter Halima, Arbai, Amina und Shamsi, die Söhne Mohamed und Abdulwahad. Halima ist 16 Jahre alt und die Älteste, Abdulwahad, 2, das jüngste der Kinder. Hassans Frau Nurto ist 38 Jahre alt und schön wie ein Gemälde. Aber sie ist auch ein wenig seltsam, meistens sitzt sie leise lächelnd in der Ecke und spielt mit den Kindern. Hassan zuckt mit den Schultern. Sie sei immer so gewesen, seit er sie als junges Mädchen zur Frau genommen habe. Halima und Arbai kümmern sich deshalb um den Haushalt, sie kochen und waschen in der winzigen Plastikschüssel mit brackigem Wasser. Hassans Mutter Khadija ist 61. Sie hilft den Mädchen, aber ihre Knochen sind müde, sie kann nicht mehr lange stehen. Sie zeigt auf ihre Füße, breit und ausgetreten sind sie, knorrig wie alte Baumstrünke. Eigentlich möchte sie nicht in die USA auswandern. Jemand hat ihr erzählt, dass man dort alte Menschen nicht mag.
Auch Hassan Lamungu ist leicht zu verunsichern. Wenn ein Nachbar ihn fragte: 'Warum guckst du in den Himmel und nicht auf den Boden?', würden seine Hände anfangen zu tanzen, als wollten sie Fliegen verscheuchen, und er würde sagen: 'Wieso? Ist es falsch, in den Himmel zu sehen?' Ständig wischt er sich die Scham aus dem Gesicht. Er sei schon als Kind so gewesen, sagt er, schüchtern, nie habe er sich beklagt oder gewehrt. Das komme, so stellt er es sich vor, "aus seinem Blut". Er sagt das, als trüge er eine bizarre Krankheit in den Adern, die ihm verbietet, selbstbewusst zu sein. Die Geschichte seine Volkes hat Hassan Lamungu gezeichnet.
Vor 300 Jahren florierte im vorkolonialen Ostafrika der Handel mit Sklaven. Arabische Händler verkauften Menschen, die sie aus Tansania, Mosambik und Malawi verschleppt hatten, an somalische Landherren; die dunkelhäutigen, gedrungen gewachsene Bantu mussten die Felder bestellen. Viele der Verschleppten konnten sich im Lauf der Jahrhunderte in die somalische Gesellschaft integrieren. Die Nachkommen von sechs Gruppen aber blieben Sklaven – noch bis 1991, bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges im Land. Sie werden von den Somali "Mushunguli" genannt, ein Wort, das sowohl "Arbeiter", "Fremder" als auch "Sklave" bedeutet. Keiner von ihnen durfte Land besitzen, ihren Kindern war es nicht gestattet, zur Schule zu gehen, Hochzeiten außerhalb der eigenen Gemeinschaft waren ihnen untersagt. Die meisten lebten am Juba-Fluss im Süden des Landes und bewirtschafteten die Felder der Großgrundbesitzer. Hassan Lamungu zog Kürbisse und Mais. Was der Landherr ihm am Ende der Ernte übrig ließ, reichte kaum, um die Familie durchzubringen. Als der Krieg 1991 ausbrach, flohen über 12 000 Somali Bantu, die Mushunguli, über die Nahe Grenze nach Kenya. "Sie hätten uns sonst umgebracht", sagt Hassan Lamungu. "Oder noch härter versklavt“. 1997, nach einer langen Flucht durch verschiedene Auffanglager, kamen sie schließlich in Kakuma an.
Jeden Morgen bei Sonnenaufgang steht Hassan Lamungu auf und betet in Richtung Mekka. In Somalia ist der Islam Staatsreligion. Ursprünglich hingen die Somali Bantu dem Naturglauben ihrer Urväter an. Dann aber meinten sie, im Koran die Erlösung gefunden zu haben. "Dort gibt es eine Stelle, in der es heißt, dass kein Moslem einen anderen Moslem versklaven darf", sagt Hassan Lamungu, der fünf Mal am Tag betet. Sehr schnell aber stellten die Bantu fest, dass auch das Wort Gottes Auslegungssache ist und sich nichts an ihrem Leben änderte. Die meisten sind trotzdem fromme Moslems. Vielleicht, weil ihnen nie etwas anderes übrig blieb, als einer fremden Kultur zu folgen.
Nach dem Morgengebet transportiert Hassan Lamungu mit einem rostiges Fahrrad Lasten durch das Lager. Das Fahrrad gehört nicht ihm. Denn auch in Kakuma haben die Bantu Herren über sich, für die sie arbeiten, wieder meistens Somali. Die freuten sich 1997 über die Ankunft ihrer Mushunguli. "Sie sagten: Wir hatten uns schon gefragt, wer die Latrinen baut", erzählt Hassan Lamungu. "Wir haben keine Kraft, um uns zu wehren." Die Ordnung ist alt, festgefahren. Wer seinem Herrn nicht gehorcht, wird geprügelt, im schlimmsten Fall umgebracht. Frauen werden vergewaltigt. Nicht nur von den Somali. Auch die anderen Gruppen im Lager – Sudanesen, Äthopier, Kongolesen, Ugander – nutzen das Machtgefälle. "Was kann ich ausrichten gegen so viel Hass?", fragt Hassan Lamungu. "Wenn uns die Somali unsere Frauen und unser Essen nicht nehmen, dann nimmt es ein anderer."
Im Lager herrscht ein Kampf um soziale Rangordnung, damit um die schiere Existenz. Die Somali Bantu schlagen sich nicht gut. In der Statistik sieht das so aus: Im Schnitt sterben in Kakuma 0,6 Kinder pro Tag an den Folgen von Unterernährung. Bei den Somali Bantu sind es 1.4, mehr als doppelt so viele. Hassan Lamungu hat seine Kinder bisher durchgebracht. Aber er weiß nicht, wie lange er das noch schafft. Am Ende eines Arbeitstages bekommt er zehn oder 20 Shilling ausbezahlt, das reicht für eine Tasse Mais.
Natürlich ist den Hilfsorganisationen schnell klar geworden, dass die Situation der Somali Bantu im Lager aussichtslos ist. Wie aber eine neue Heimat für 12 000 Menschen finden? Bereits 1995 hatte sich die UNHCR an Tansania gewandt, weil es das Land der Vorfahren ist. Die Regierung lehnte die Rücksiedlung 1996 ab, nachdem Tansania zehntausende Flüchtlinge aus Ruanda aufnehmen musste. Ähnlich reagierte ein Jahr später Mosambik. Vermutlich wäre es die beste Lösung gewesen, die Bantu innerhalb Afikas umzusiedeln, weil das den Menschen einen Neuanfang leichter gemacht hätte. Aber keine Regierung wollte Platz schaffen für 12 000 ehemalige Sklaven. Und so blieben die USA.
Hassan Lamungu bemüht sich, soviel wie möglich über Amerika zu erfahren. Er hat eine Ahnung, die ist diffus. Er weiß, dass das Land "groß ist, so groß wie Kakuma und vielleicht noch größer. In Amerika sind die Menschen immer glücklich. Sie singen ständig. Und sie duften. Wir werden viel Parfum benutzen, denn ein Amerikaner muss immer gut riechen.“
Bruchstücke, die er sich zusammenklaubt aus dem, was die Leute im Lager erzählen. Niemand weiß genaues. Darum gibt es Kurse in "Cultural Orientation". Die USA sollen kein Schock werden. Der „Kultur-Unterricht“ ist ein Crash-Kurs zur Einführung in den "American Way of life", alle Erwachsenen und die älteren Kinder müssen daran teilnehmen. 80 Stunden - sie sollen reichen für die Reise in ein anderes Jahrtausend.
Das Klassenzimmer liegt in einer weißen Baracke aus Press-Span. Drinnen ist es heiß und stickig. Heute ist das Badezimmer Thema. In der Ecke des Raumes steht eine Wanne. Ein Mann in der erste Reihe fragt: "Ist das ein Boot?" Hassan Lamungu hat sich nach hinten gestellt. Er hat Angst, dass ihn jemand etwas fragt. Auch er wundert sich, was ein Boot im Klassenzimmer zu suchen hat. "Was ist das, ein Stuhl?" Eine Frau mit buntem Kopftuch zeigt auf die Toilette. Das Klobecken ist weiß und sauber, die Brille hochgeklappt. Erst gestern war einer der Somali Bantu unverrichteter Dinge von der Mitarbeitertoilette wiedergekehrt. "Das sieht da so sauber aus", hatte er gesagt, "darauf kann ich mich nicht erleichtern." Hassan Lamungu versteht jetzt, was der Mann gemeint hat.
Khadija, Hassans Mutter, schüttelt den Kopf. Sie kommt nicht mit. So viele Knöpfe. Warum soll die Welt plötzlich so kompliziert sein? Die Lehrerin demonstriert, wie man sich mit einer Bürste die Zähne putzt. "Erschreckt nicht, wenn die Zahnpasta schäumt!" An der Wand ein paar Bilder, die jemand aus einem Versandhauskatalog ausgeschnitten hat. Menschen im Winter, die Mütze, Schal und Handschuhe tragen und durch den Schnee tollen. Und Menschen im Sommer, die an einem Strand spazieren gehen. Eine Grafik: Darauf ist ein Bauer zu sehen, in abgerissener Kleidung und mit einer Sense in der Hand; daneben ein Mann im Anzug, mit Aktenkoffer. Unter dem Bauern steht die Jahreszahl 1860, unter dem aneren 2003. Es ist ein gewaltiger Sprung, den die neuen Amerikaner schaffen müssen.
Die vielen Plakate im Klassenzimmer sollen klare Botschaften vermitteln. Auf einem steht: "African Time = Time is Money". Die Worte "African Time" sind durchgestrichen. Die Lehrerin übersetzt. Hassan Lamungu versteht kein Englisch. Immerhin kann er lesen und schreiben, als einer der wenigen hier. Er denkt darüber nach, was es bedeutet, dass Zeit das Gleiche ist wie Geld. Er hat viel Zeit und ist trotzdem arm. Er glaubt, dass das in Amerika anders werden wird. Es muss so sein.
Ein Ziel des Kultur-Unterrichts ist es, die Somali Bantu zu einer westlichen Arbeitsethik zu erziehen. Einwanderer, die kein Englisch sprechen und keine Ausbildung haben, bekommen in den USA so genannte "Entry level jobs" zugewiesen. Das bedeutet für die Männer: Böden schrubben bei McDonald's oder Autos waschen, für die Frauen Hotelzimmer putzen. Dafür gibt es zwischen 4,50 und 8,50 Dollar in der Stunde. Das hört sich nach sehr viel Geld an.
Hassan Lamungu hat als Bauer gearbeitet. Er weiß, welche Erde für Mais gut ist und welche für Kürbis. Mit einem Blick in den Himmel kann er das Wetter vorhersagen. "Ich will hart arbeiten", sagt er. "Ich will ein guter Amerikaner werden. Aber wenn ich von Montag bis Freitag arbeiten muss, woher soll ich wissen, wann Sonntag ist?"
Die Somali im Lager sind wütend, dass ihre ehemaligen Sklaven in den Genuss dieser Kurse kommen: An den Gerüchten, dass die Bantu bald in die USA umziehen, ist also tatsächlich etwas dran. Wie Wespen, in deren Nest man mit einem Stock gestochen hat, umsurren sie ihre früheren Leibeigenen. "Wir haben noch nie einen Bantu nach Amerika gehen sehen", drohen sie. "Zuerst kommen wir!" In der Hoffnung, ebenfalls umgesiedelt zu werden, sind sie bis an die Grenzen ihrer Selbstachtung gegangen, manche sogar darüber hinaus: Sie haben Bantu-Frauen Heiratsanträge gemacht. Andere haben Familien mit dem Tod gedroht, damit diese ihre Familiengeschichte preisgeben; die wiederum wollten die Somali den Beamten der US-Einwanderungsbehörde als ihre eigene präsentieren. Hassan Lamungu erzählt, dass einige ihre Geschichte für einen Sack Reis verkauft hätten.
Erfolglose Geschäfte. Die Somali sind viel hellhäutiger als die Bantu. Und kein Somali wirkt, selbst, wenn er sich anstrengt, so schüchtern und hilflos wie ein Mushunguli, von denen die meisten nicht einmal wissen, wann sie geboren sind. "Nach dem großen Regen", antworten sie auf diese Frage, oder: "Als die Cholera kam.“ Manche sagen: "Ich weiß nicht. Sagen Sie mir doch, wie alt ich bin." Jeder Umsiedler braucht einen Geburtstag, für den Pass und die Arbeitserlaubnis. Die meisten sind offiziell am 1. Januar irgendeines Jahres geboren. Vielleicht weil dieses Datum leicht zu merken ist, und weil es schön nach Neuanfang klingt.
Am Nachmittag wechselt das Unterrichtsthema. Abwechslung ist wichtig, die meisten waren nie in einer Schule und können sich nur zwei, höchstens drei Stunden konzentrieren. Besonders die Frauen fangen nach einer Weile an, herumzugehen. Oder sie schlafen ein. Die Lehrer müssen Höhepunkte setzen. Mit dem Telefon kann man die Klasse jeden Tag begeistern. Heute soll eine junge Frau üben, die Polizei zu rufen. "Nine one one! Nine one one!" Sie drückt den Telefonhörer fest an ihr Ohr. Sie schreit die Zahlen in die Muschel, die Tastatur hat sie nicht benutzt. 40 Männer und Frauen schauen ihr gespannt zu. "Nine one one!" Die Frau lockert ihren Griff um den Hörer etwas. "Ist es so richtig?"
"Das ist der Hörer", erklärt die Lehrerin. "Oben hört man die Stimme, und unten spricht man hinein. Aber erst muss man die Nummer desjenigen wählen, den man erreichen will."
"Wen ruft ihr an, wenn es brennt?“, fragt sie.
"Nine one one! Nine one one!" Die Klasse antwortet im Chor.
"Was sagt ihr dann?"
"Fire! Fire! No english, no english!".
An die Tafel hat die Lehrerin "911" geschrieben und dick unterstrichen. Einige malen die Telefonnummer mit Kinderschrift in ihre Hefte, die Zahlen werden ungelenk und krumm. Die meisten haben gerade erst schreiben gelernt. Sie halten den Stift wie einen Rührlöffel fest umklammert in der Faust. Manche kritzeln in das Schulbuch. Es heißt "Welcome to the U.S.". Darin sind Bilder von schwarzen und weißen Menschen, die sich die Hände schütteln und sagen: "Nice to meet you. My name is Mohamed." Hassan Lamungu freut sich über diese Bilder. Er hat es schon länger vermutet: "Amerika ist eine Demokratie. Dort gibt es keinen Rassismus."
Am frühen Abend, nach der Schule, ist Hassan Lamungu bestens gelaunt. Er spaziert durch das Lager, seine Familie hinterher. Er wünscht seinem Nachbarn "Good day", er probiert englische Wortfetzen aus, "Hello!" oder "I am Hassan.“
Wenn man ungeduldig auf etwas wartet, vergeht die Zeit zäh wie Brei. Dann ist plötzlich, im Mai 2003, der Tag der Abreise da: Die ersten 74 Somali Bantu ziehen nach Amerika, Ende des Jahres 2004 sollen alle 12 000 Menschen umgesiedelt sein, so ist der Plan. Hassan Lamungu hat in seiner letzten Nacht im Lager nicht geschlafen. "Der Finger Gottes hat auf uns gezeigt", ruft er. "Wir gehen in die Welt des Wohlstands!" Vor seinen Füßen steht der Besitz der Familie, eine Tasche, zwei Plastiktüten. Halima weint. Nurto, die Frau, sagt nichts. Sie lächelt und wiegt ihren kleinen Sohn. Sie werden zum ersten Mal fliegen. Von Kakuma nach Nairobi, von dort über Brüssel in die USA. Die Hilfsorganisationen haben ihren Mitarbeitern Zettel ausgehändigt, auf denen steht, dass jeder Somali Bantu zur Toilette und wieder zurück begleitet werden muss. Eine Flugzeugtoilette wurde im Kulturkurs nicht gezeigt.
45 Stunden später ist das Flugzeug über Arizona. Das Land da unten ist staubig, wenig grün. Ein paar sandig-rote Felder sind zu sehen, kaum Ortschaften. Die Somali Bantu werden in 50 Städten über das Land verteilt. Hassan Lamungu und seine Familie ziehen nach Phoenix. "Man hat uns gesagt, dass das Klima hier angenehm ist", sagt Hassan. Er hofft, dass es erträglicher ist als in Kakuma, dort ist es oft so heiß, dass sich selbst die Fliegen nur kriechend fortbewegen.
In der klimatisierten Halle des Flughafens ist es bitterkalt. Eine Gruppe Somali steht da. Sie halten Blumensträuße in den Händen und viele bunte Luftballons, auf denen in runden Buchstaben steht: "Welcome!" und "USA!" Die Somali sind als Übersetzer angefordert worden, und damit sich die Somali Bantu ein wenig heimisch fühlen. Einer ist der Sohn des Großgrundbesitzers, auf dessen Hof Hassan Lamungu in Somalia geschuftet hat. Hassan fasst das Gepäck fester und legt seinem Sohn Mohamed die Hand auf die Schulter. Hassan lächelt und sagt, er freue sich, in der Fremde ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Phoenix ist eine der am schnellsten wachsenden Städte in den USA. Eine Meile pro Jahr breitet sich die Großstadt in die Wüste aus. Die Stadt ist zerschnitten von Freeways und Schnellstraßen. Jeder Einwohner hat im Schnitt zwei Autos, ohne Fahrzeug kann man sich hier kaum bewegen. Auch die "Phoenician Palms Apartments" liegen an einer Hauptverkehrsstraße. Die Anlage besteht aus grauen Würfeln, die zu einem Hufeisen zusammengestellt sind. Auf den Treppen lungern vietnamesische Jugendliche. In der Mitte des Komplexes liegt eine Erholungszone. Dicke mexikanische Kinder treiben in einem trüben Swimmingpool.
Das neue Apartment der Lamungus liegt ebenerdig, damit niemand die ungewohnten Treppenstufen herunterfällt. Die Wohnung kostet 900 Dollar. In einigen Monaten sollen Hassan und seine Frau genug Geld verdienen, um die Miete selbst zu zahlen. Jetzt springt noch das Sozialamt ein. Die Wohnung hat zwei Bäder und drei große Schlafzimmer, die Betten sind mit gerüschten Tagesdecken überzogen. Eine Klimaanlage kühlt die Räume auf 18 Grad herunter. Im Wohnzimmer steht ein Fernseher mit Videorecorder, die Küche ist mit Vorräten für die nächsten Tage ausgestattet, mit Erdnussbutter, Ketchup, Dosentomaten, Kidney-Bohnen, Kartoffelbreipulver, Schokoladenaufstrich, Teebeuteln, Corn Flakes mit Honigglasur, Eiern, Bananen und Pitabroten. Außer den Eiern, den Bananen und dem Brot ist nichts dabei, das Hassan Lamungu bekannt vorkommt.
Er weiß, dass es Schalter gibt, mit denen man abends das Licht anmachen kann. Im Kulturkurs hat er sich einmal fast zu Tode erschrocken, als er sich gegen die Wand lehnte und es dann plötzlich hell im Raum wurde. Er hat es vergessen. Nachdem die Sonne untergegangen ist, sitzt die Familie im Dunklen auf dem Wohnzimmerboden. Auch zum Schlafen bleiben sie dort. "Wir sind es so gewohnt", sagt Hassan. Halima war auch unsicher, ob sie die Betten wieder schön herrichten könnte. Sie wollen keine Fehler machen.
Frühstück am nächsten Morgen. Halima reißt Teebeutel auf und schüttet den Inhalt in einen Topf mit Milch, dann zerrt sie an ein paar Knöpfen, bis auf einer Platte das Feuer angeht. Zum Glück hat der Gasherd eine automatische Sicherung. Arbai holt gefrorene Pitascheiben aus dem Eisfach. Die Kleinen beschweren sich über das harte, kalte Brot. Es knirscht beim Kauen. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, der Beweis, dass die Familie es geschafft hat. "Fernseher haben nur Menschen, denen es sehr gut geht." sagt Hassan. Alle sitzen im Wohnzimmer und schauen "Sesamstraße", "Buffy – im Bann der Dämonen", "Sex and the City", stundenlang, alles, was gerade läuft.
Am dritten Tag fährt Hassan mit Halima und Mohamed in den Supermarkt. Einer der Somali holt sie mit dem Wagen ab. Er soll ihnen auch das Angebot erklären. Eine Statistik der Flüchtlingskommission geht davon aus, dass die Somali Bantu 99 Prozent der Lebensmittel in den Supermärkten nicht erkennen. Die Somali in Kakuma hatten bis zuletzt Gerüchte gestreut, dass es in Amerika nicht genug zu essen gäbe. Hassan Lamungu hatte sich wegen der Nahrungssituation Sorgen gemacht. Jetzt sieht er, dass diese Gerüchte falsch waren. Übergewichtige Menschen schieben Einkaufswagen durch endlose Regalreihen mit Lebensmitteln. "Sie müssen sehr reich sein", flüstert er seinen Kindern zu. "Seht nur, wie dick sie sind."
Hassan Lamungu bemüht sich, jene Dinge, die er noch in Afrika gelernt hat, einzuhalten. Er erinnert sich, dass man in den USA Einkäufe immer kalt aufbewahren muss. Jetzt steht er vor dem Kühlschrank und gibt Halima und Arbai Anweisungen: Deostifte, Zahnpasta, Shampoo und Zwiebeln ins obere Fach. Bananen, Lammfleisch, Nudeln in das mittlere. Ganz nach unten Milch und Cola. "Wie im Paradies", sagt er. "Ich habe mir immer Fleisch gewünscht. Vielleicht werde ich bald ein Auto haben. Ich habe das Gefühl, dass man in diesem Land alles erreichen kann."
Im Klassenzimmer in Kakuma hing eine große Grafik an der Wand, mit der Überschrift "Kulturelle Anpassung". Auf der y-Achse war "Happiness" eingezeichnet, auf der x-Achse die Zeit. Am Anfang zeigte die Kurve steil nach oben, dieses Stadium hieß "Honeymoon". Dann stürzte die Kurve plötzlich nach unten, bis sie fast aus der Grafik fiel: "Shock, depression". Die Kurve stieg wieder ein wenig, "recovery", Erholung also, bis sie schließlich gerade verlief. Dort wäre die "Balance" erreicht, das Ziel. Die Lamungus befinden sich im Honeymoon.
Es gibt verschiedene Wege, in ein neues Leben zu gehen. Man kann aus der Haustür treten und sich gründlich umsehen, damit einem das Gefühl der Fremdheit nicht in die Knochen kriecht. Man muss allerdings ungefähr einschätzen können, was einen erwartet. Hassan Lamungu nimmt einen anderen Weg. Er bleibt sitzen und wartet. Er traut sich allein nicht aus dem Haus. Er fühlt sich wie jemand, der in einer Höhle sitzt, und vor dem Ausgang streicht ein Löwe umher. Die Hilfsorganisation will der Familie Zeit lassen. Hassan Lamungu weiß nicht genau wofür, aber er denkt, dass es so richtig ist. Der Sachbearbeiter, der jeden Morgen vorbeischaut, meint, dass es noch einige Monate dauern kann, bis sich Arbeit für Hassan und seine Frau Nurto findet. Der Sachbearbeiter bleibt eine Stunde, und Hassan Lamungu sagt ihm jeden Morgen, dass er sehr dankbar ist, dass sie glücklich sind, dass sie sich gut eingewöhnen.
Inzwischen schläft die Familie nicht mehr auf dem Fußboden, sondern in den Betten. Die verzierten Überdecken streichen Halima und Arbai jeden Morgen sorgfältig glatt, darüber breiten sie die nassen Handtücher aus, die sie zum waschen benutzt haben. Die Luft in den Schlafzimmern ist muffig; der Sachbearbeiter hat vergessen zu erklären, wie sich die Fenster öffnen lassen.
Und dann, am zehnten Tag des neuen Lebens in Amerika, packt ein Übersetzer die Familie in einen Kleinbus und macht mit ihnen einen Ausflug nach Downtown.
Dort sind die Häuser aus poliertem Glas, die Sonne bricht sich tausendfach in den Fassaden. Wer in der Fremde ist, sucht nach kleinen Übereinstimmungen, die das Unbekannte ein wenig bekannter machen. Hassan Lamungu hat den Kopf weit in den Nacken gelegt, um an den Hochhäusern hinaufschauen zu können, dorthin, wo die Dächer sein sollten. Er hat die Nasenflügel weit gebläht, als suche er einen bestimmten Duft. Er hält sich an seinen Kindern fest, damit er nicht nach hinten fällt. Irgendwann beginnt der Himmel zu verschwimmen, zu zucken, bis Hassan Lamungu die Knie weich werden. "Wie heißt dieser Ort?", fragt Mohamed. "Ist das Amerika?"
Zwischen den Gebäuden schlurft ein weißer Obdachloser mit seinem Einkaufswagen um die Ecke. Er trägt eine dreckige Jogginghose und einen burgunderfarbenen Pullover. Er betrachtet die Familie, dann streckt er Hassan Lamungu seine schmutzige Hand entgegen. „Habt ihr etwas Kleingeld für mich?“, fragt er.